Schubladen-denken
Meine Eltern sind nicht ganz normal. Das wusste ich schon immer, zum Beispiel wegen unseren Schubladen.
Weil es bei uns nämlich schon immer in jedem Zimmer immer eine leere Schublade gibt. Und wenn es keine Schubladen gibt, weil es in dem Zimmer keinen Schrank gibt, dann gibt es extra eine leere Kiste.
Der Papa sagt, dass ist, um uns alle immer daran zu erinnern, wie viel wir nicht wissen. („Eine Leerstelle für alles, was wir noch nicht wissen und vielleicht nie wissen werden. Oder gar nicht wissen sollten?“).
Die Mama sagt, dass ist, um uns immer daran zu erinnern, dass wir viel zu viel Zeug haben. („Wenn alle anderen Schubladen so voll mit Zeug sind, dass du auch noch die allerletzte Schulblade füllen willst, dann ist es Zeit, etwas fort zu geben.“)
Die Oma sagt, das ist, weil meine Eltern spinnen.
Das war noch bevor wir auf die Burg gezogen sind. Die Oma war bei uns in der Wohnung zu Besuch und hat mit mir mein Zimmer aufgebräumt. Das heißt, sie hat alles umgeräumt und ich hab zugeschaut. Das war lustig. Omas kann man beim Arbeiten zuschaun. Muttis wollen immer, dass man auch was tut.
Jedenfalls hat die Oma die ganze geschimpft, was für ein Schmarrn des ist, eine Schublade leer zu lassen. Den Platz kann man doch nutzen. Und wo all die schönen, neuen Kleider sind, die sie immer für mich schickt? Wie dummes es ist, Kleider selber nähen zu wollen, wenn man sie doch so einfach kaufen kann. Und warum wir alle immer so aussehen, als ob wir in den Resten vom Caritas-Kleiderspenden-Container rumlaufen? (Das hab ich nicht ganz verstanden. Caritas ist ein lateinisches Wort, sagt der Papa. Aber wir laufen nicht ein Kleidern von den Alten Römern rum. Das muss die Oma doch sehen?)
Ich konnte aber nicht mehr nachfragen, weil die Mama das gehört hat und sie und die Oma sich dann ganz arg geschritten haben.
Die Oma hat gleich geweint und gesagt, dass sie keiner lieb hat.
Die Mama ist immer wütender geworden und hat gesagt, dass sie sich nicht emotional erpressen lässt (das Wort muss ich noch mal nachfragen) und dass die Oma aufhören soll, immer gleich zu heulen (das Wort kenne ich).
Weil, hat die Mama geschimpft, man Liebe nämlich nicht erkaufen kann und weil die Oma aufhören soll, mich und den Franz und die ganze Wohnung mit all dem sinnlosen Zeug vollzustopfen. (Also ich mag Zeug schon. Spielzeug, Badezeug, Schreibzeug… Aber die Mama ist total gegen Zeug.)
Da hat die Oma geschluchzt und gefragt, was die Mama mit ihren Geschenken gemacht hat.
Die muss sie im Keller in extra Boxen sammeln, weil sie in der Wohnung keinen Platz haben. „Du würdest unsere Wohnung so voll stopfen, dass uns keine Luft zum Atmen bleibt“, hat die Mama geschrien.
(Das hat nun wirklich nicht gestimmt. Die alte Wohnung war klein, aber Luft gab es ganz viel. Besonders oben an der Decke.)
Aber die Mama hat sich gar nicht mehr beruhigen können und gesagt, sie hält das nicht mehr aus, „ dieses ewige Kaufen, Kaufen, Haben, Haben und immer noch mehr und nie genug.“
Da hat die Oma auch geschrien. Weil Einkaufen nämlich Freude macht, aber davon versteht die Mama ja nichts. Und außerdem ist Einkaufen gut für die Wirtschaft und die Mama hat noch nie was Schönes genäht.
Das war alles wirklich schlimm und ich hab gemerkt, dass ich gleich weinen muss, wenn sie nicht zu streiten aufhören. Zum Glück hat aber der Franz vor mir geweint. Da ist die Mama raus gegangen, um ihn zu füttern, und alleine konnte die Oma nicht streiten.
Die Oma hat geweint und ich wollte sie trösten. Sie hat gesagt, was für eine böse Tochter die Mama manchmal ist, aber das fand ich dann auch nicht nett von der Oma.
Dann kam der Papa heim und wir haben gegessen. Gestritten wurde nicht mehr, aber keiner hat viel gesagt.
Am Ende haben sie die Mama und die Oma wieder versöhnt. Sie haben sich im Arm gehabt und ganz viel geweint und gesagt, wie lieb sie sich haben. Und wie dann die Oma am nächsten Tag wieder heimgefahren ist, war alles schon lange wieder gut.
Aber das Wichtige ist, was die Mama dem Papa danach gesagt hat: „Lass uns mit den anderen zusammenziehen. Ich meine es ernst. Für jeden Menschen, der mich unterstützt, gibt es fünf andere, die mich runterziehen. Das muss sich ändern, denn es kostet zu viel Energie.“
Und darum wohnen wir jetzt alle auf einer Burg, wo öfter der Strom ausfällt.